Von Schwein 1 bis zum Supervollzeitschwein: Die dreijährige Geschichte von MeinekleineFarm.org

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Schwein 1 auf dem Acker von Bauer Schulz in Gömnigk, Brandenburg

Schwein 1 wurde am 18. November 2011 geschlachtet: Morgens um 6 Uhr trottete es aus dem Anhänger von Bauer Schulz ins „Wartezimmer“ von Metzger Zimmermann und schnüffelte herum. Ich fühlte mich verantwortlich für Schwein 1, schließlich hatte ich es bestellt, also einmal im Glas, bitte. Und so verdrehte Schwein 1 kurz die Augen, als der Schlachtergeselle die Stromzange an die Schläfen von Schwein 1 drückte. Ich war überrascht, dass es nicht einmal quiekte. Das Kammerflimmern knipste Schwein 1 die Lichter aus und kurz darauf hing es bewusstlos über der Blutabtropfrinne, wo ihm ein weiterer Schlachter die Halsschlagader aufschnitt.

Die Stromzange hängt bei Metzger Zimmermann an der Fliesenwand

Der Veterinärmediziner und Philosoph Jörg Luy schreibt mit Kollegen in „Der vegetarische Appell und die Tiertötung. Eine ethische Herausforderung“ (2001), wie ich finde, überzeugend von der angst- und schmerzlosen Tiertötung, die gewährleistet sein sollte, wenn man tötet. Der Tod an sich ist für den, der stirbt, kein Problem, Tote empfinden nichts mehr, sie können nicht leiden. Körperliche Qualen oder das Wissen um den baldigen Tod sind hingegen schrecklich (Zum Beispiel, wenn man in einer Zelle auf die Todesstrafe wartet). Ähnlich ist es bei den Nutztieren: Es gilt, eine möglichst angst- und schmerzfreie Tötung zu ermöglichen. Schwein 1 machte im „Wartezimmer“ einen entspannten Eindruck, war ruhig, schnüffelte herum, zeigte keine Anzeichen von Angst. Vielleicht, weil es ein entspannntes Leben im Freiland hatte. Was es genau empfunden hat, kann ich natürlich nicht sagen. Die Tötung war vermutlich auch schmerzfrei, die Stromzange wirkte so schnell, dass Schwein 1 nicht einmal gequiekt hat. Also ein Frischluftleben auf dem Freilandacker mit einem plötzlichen und anscheinend angst- und schmerzfreien Ende.

Schöne Gefühle, die beim Gedanken daran entstehen? Dem Schwein ging es so gut wie möglich. Ein gutes Gewissen, beim Biss in die Leberwurststulle vom Freilandschwein, das beim kleinen Metzger geschlachtet wurde? Das freut mich. Das ist auch das Ziel von MeinekleineFarm.org: Dass Leute insgesamt weniger Fleisch, aber wenn, dann gutes aus tiergerechter Haltung essen. Doch 4,50 Euro für 200 Gramm Leberwurst? Oder gar sechs Euro für die vom seltenen Sattelschwein? Ist das nicht ein bisschen teuer? Oder ist das nur der wahre Preis, den man für Discounter-Wurst nicht zahlen muss, weil Kosten für Antibiotika-Resistenzen oder Umweltzerstörung externalisierst wurden, also von jedem Steuerzahler, auch den beWursten und vegetarischen, übernommen werden?

Saubillig, aber anonym und aus ungewisser Haltung und Schlachtung: 99-Cent-Wurst im Discounter.

Klar, die Wurst vom Freilandschwein bzw. dem traditionellen kleinen Metzger schmeckt lecker, und dafür bezahlt man gerne etwas mehr. Aber beim Sattelschwein zum Beispiel bezahlt man viel Geld einfach nur dafür, dass das Schwein mehr Zeit hat. Man kauft dem Schwein Lebenszeit. Denn es wächst recht langsam, dieses Sattelschwein. In Kreuzung mit einem Wildschwein braucht es ganze zwei Jahre, bis es genug Fleisch angesetzt hat, damit sich die Schlachtung lohnt. Zwei Jahre, in denen das Schwein feinstes Biofutter frisst, das meiste davon selbst angebaut (schweineteuer im Vergleich zum genetisch getunten Soja aus Brasilien). Der Landwirt schaufelt vorne Geld rein und hinten kommt viel Mist raus. Der ist auch etwas wert, aber es geht um den Fleischzuwachs und der lässt sich Zeit. Nachdem es fotografiert wurde, wird das dann Tier einzeln oder mit nur wenigen Artgenossen aus der Herde genommen und zum Schlachter gefahren, der es einzeln zu lecker Wurst und Fleisch verarbeitet.

Hier muss sich jeder die Frage stellen: Will ich für Schweinezeit, tiergerechte Haltung, lokale Stoffkreisläufe und Gesichtsaufkleber Geld bezahlen?

Effizienter sind zentralisierte, große Systeme, in denen der Aufwand und die Kosten pro Kilogramm gewonnene Biomasse reduziert werden. Die Futterverwertung bekomme ich über Züchtungen optimiert (Tschüss, Sattelschwein), über Antibiotika und darüber, dass die Tiere sich nicht so viel bewegen können (das verschwendet Energie und verlangsamt das Wachstum). Die Haltungskosten kann ich über weniger Stallfläche und damit Heiz- und sonstige Kosten pro Tier reduzieren: Mehr Biomasse pro Zeit- und Raumeinheit. Die vollautomatisierte Schlachtung ist auch günstiger: Sie spart Personalkosten und wenn die Maschinen 20 bis 30.000 Schweine pro Tag schaffen, lassen sich die Kosten weiter reduzieren. Gut und günstig, könnte man meinen. Aber angst- und schmerzlose Tötung? Wohl kaum. Ein tiergerechtes Leben? Guter Witz.

Aber ist denn der Konsument nicht selbst schuld, wenn er die 99-Cent-Mortadella beim Discounter kauft? Das ist ein bisschen zu einfach gedacht. Die kognitive Kapazität des Menschen ist begrenzt, man kann nicht erwarten, dass sich jeder auch noch mit den Folgen des Fleischkonsums auskennt und bei jedem Einkauf bewusst darüber nachdenkt. Man soll ja schon Fair-Trade Kaffee trinken, weniger flugreisen, Plastik vermeiden und sonst wie okösozial leben. Die Produzenten sind profit- und wettbewerbsgetrieben, wer nicht günstig kann, geht unter. Doch die Politik kann hier Rahmenbedingungen schaffen, Gesetze erlassen. Beim Verbot der Käfighaltung ging’s doch auch.

Sind wir also bereit, mehr Geld für’s Gutsein auszugeben? Für Respekt unseren Nutztieren gegenüber? Für’s Wurstkarma? Ich und viele MeinekleineFarm.org Kunden sagen: Jaaaaa! Doch wie schaffen wir es, noch mehr Leute davon zu überzeugen? Viele sagen: „Kann ich mir nicht leisten.“ Doch! Denn wer doppelt so viel für die Hälfte bezahlt, hat am Ende das gleiche Geld in der Tasche. Fleisch wieder als etwas Besonderes wertschätzen und weniger aber besser davon essen.

Sattelschweine im Luzerneheu auf dem Acker von Gut Hirschaue: Luzerne ist ein hochwertiges Eiweissfutter und Stickstoffbinder. Die Leguminose spart Soja-Importe aus Brasilien und künstlichen Nitratdünger.

Es geht dabei ja auch nicht nur um die Tiere, sondern auch um uns selbst: Denn der zu hohe Fleischkonsum ist einer der stärksten Treiber der Klimaerwärmung und zerstört unsere Umwelt. Denn um eine Kalorie Fleisch herstellen zu können, muss man durchschnittlich 10 Kalorien Pflanzen investieren. Entsprechend viel Soja muss auf Ex-Regewaldflächen angebaut werden. Aber seien wir ehrlich: Diese abstrakte Umweltzerstörung im 10.000 Kilometer entfernten Regenwald tangiert uns nicht wirklich, wenn wir in ein saftiges Schnitzel beißen.

Deshalb versucht es MeinekleineFarm.org mit Humor und guter Laune: „Leute, ist doch ganz einfach und lecker, weniger, aber besser Fleisch zu esse, guck mal hier, lecker Leberwurst mit Gesicht!“. Viele Fans und treue Kunden sagen uns immer wieder: „Weiter so!“. Und wir bleiben dran. Doch jetzt, im vierten Jahr, wird uns auch immer klarer, dass die weitere Verbreitung des neuen BeWurstseins kein Selbstläufer mehr ist.

In den ersten zwei Jahren versorgte uns die Presse mit einer tollen Reichweite, wir waren oft ausverkauft und der Server ächzte. Doch alle neue Geschichten – „Da zeigt einer die Schweine, die man isst!“ – verblühen und werden uninteressant. Also ist es an uns selbst, die Verbreitung voranzutreiben. Außerdem wollen wir natürlich professioneller werden. Aus meinem Wohnzimmer heraus habe ich vor etwas mehr als drei Jahren im Rahmen meines Studiums an der Humboldt-Viadrina School of Governance MeinekleineFarm.org ins Leben gerufen. Heute sitzt unsere festangestellte Supervollzeitkraft Laura im Wurstbüro und überweist schmerzhafte Rechnungen für die Reparatur des Wurstmobils oder für die Betriebshaftpflichtversicherung.

MeinekleineFarm.org ist in den letzten drei Jahren langsam und organisch gewachsen – ähnlich wie die Freilandschweine ;) Wir arbeiten ohne Fremdkapital oder Kredite an Tischen, die wir geschenkt bekommen haben und freuen uns wie kleine Kinder, wenn wir unsere ersten bedruckten Baumwolltaschen in Händen halten. Pipifax, könnten man meinen. Doch BeWurstsein braucht seine Zeit. Nicht nur müssen die Tiere artgerecht und in Ruhe aufwachsen, einzeln geschlachtet und verarbeitet werden. Auch schätzen wir das Tier post mortem wert, indem unsere lieben Ferkel für 10 Euro pro Stunde die Aufkleber und Etiketten auf die Gläser kleben. Selbst Schuld, wenn da unbedingt immer das Geicht des entsprechenden Schweins drauf muss, könnte man weiter meinen.

Bei Gut Hirschaue läuft das mit dem Gesicht so: Bauer Henrik fotografiert ein schlachtreifes Schwein, druckt die Fotos aus, kringelt markante Stellen des Schweins rot ein – etwa den weißen Streifen auf der Nase von Schwein 148 – und gibt die Fotos dann dem Vater, der das Schwein auf dem Acker schießt.

Doch das ist das Herz von MeinekleineFarm.org: Wir geben Fleisch ein Gesicht. Deshalb können wir kein Geld sparen und aus drei Schweinen eine günstigere Gesamtwurst machen. Deshalb müssen wir mit den Würsten leben, die die Tiere hergeben. Deshalb bekommen wir auch immer Blutwurst und Sülze geliefert, auch wenn die nicht so gut gehen wie beispielsweise Leberwurst (obwohl Sülze aus viel edleren Zutaten gemacht wird, siehe unsere Wurstkunde).

Ob das mit dem Gesicht sein muss, ob das „was bringt“ und ob die Idee langfristig überlebensfähig ist – darüber können wir gerne in den Kommentaren diskutieren. Ich persönlich sehe es auch als ein Experiment: Im Studium faszinierte mit die Idee und sie fasziniert mich noch immer, weil sie noch so viele Möglichkeiten bietet. Also setzte ich die Idee um, ich probierte sie aus. Und sie funktioniert noch immer.

Doch mittlerweile vergeht uns der Wursthumor intern manchmal etwas. Zum Beispiel wenn wir voller Enthusiasmus Hot Dogs mit Gesicht für den Heldenmarkt planen und sehr viele Tage Arbeit reinstecken – und dann statt der geplanten 150 nur 20 pro Tage verkaufen. Oder wenn die Liste der gewünschten neuen Funktionalitäten unserer Webseite immer länger wird, wir aber kein Geld für die Weiterentwicklung haben. Oder alles immer etwas länger dauert, weil unserer Gesellschafterschweine wie zum Beispiel der Grafiker oder das Finanzschwein für lau neben ihren eigentlich Jobs bei MeinekleineFarm.org arbeiten.

Aber hey, knappe Ressourcen sind das halbe Leben, damit hat jeder zu kämpfen, also Schluss mit dem Geheule. Wir knöpfen uns nun erst einmal das Thema Verbreitung vor. Wurstbotschafter, Schweinini-Album oder Weihnachtswurstpakete zum Verschenken: Schritt für Schritt verbreiten wir das neue BeWurstsein immer weiter – bis anonymes Industriefleisch so uncool ist wie Eier aus Käfighaltung. Und die sind ja in Deutschland mittlerweile verboten ;)

Und weil nichts im Leben kostenlos ist (Schweinetötung zum Beispiel: 50 Euro), danke ich euch, liebe Wurstkäufer und treuen Kunden von MeinekleineFarm.org, dass ihr die Verbreitung des neuen BeWurstseins so fleißig mit finanziert. Auf ein weiteres Jahr MeinekleineFarm.org, oink!


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